Mit Datenbrille im Horrorkabinett

27.11.2021 - Ein Blick in eine nahe Zukunft...

Datenschutz ist eine abstrakte Sache, weil die negativen Auswirkungen mangelnden Datenschutzes im Alltag kaum sichtbar und stets hinter Komfort und Hochglanz verborgen sind. Vergegenwärtigen wir uns die Welt, auf die wir als Resultat eines Vierteljahrhunderts unkontrollierten Datenabgriffs zusteuern, ganz konkret mit Blick auf verfügbare Technik: Datenbrillen, die beliebige Informationen in das Sichtfeld einblenden können und über eine eingebaute Kamera und eine hohe Rechenleistung verfügen, sind Stand heutiger Technik, eine ständige, überall nutzbare schnelle Internetverbindung wird spätestens mit dem kommenden G5-Stan­dard Realität. Ein potenter Datenhändler bringt nun eine Datenbrille auf den Markt und verbindet sie mit seinen Datenbeständen. Dank Gesichtserkennung werden uns nun, wenn wir über die Straße gehen, in der Datenbrille im Gesichtsfeld über den Köpfen aller Passanten und Passantinnen individuelle Infor­mationen mit vorselektierten Schwerpunkten eingeblendet.

Ich sehe sofort: der Passant ist homosexuell, der Polizist dort bis über beide Ohren verschuldet, die Dame besitzt fünf Mietshäuser, der nervöse Herr dort besucht regelmäßig Spielkasinos, die Dame dahinter hat zuletzt auffällig oft nach Informationen zu Brustkrebs gegoogelt, der da ist nicht krankenversichert. Die­ser wählt konservativ, jener ist Fußballhooligan, die ernährt sich vegan, die hat mal zwei Jahre als verurteil­te Betrügerin gesessen, der da ist Jude, der Salafist, der Querdenker. Und der da ist Freimaurer. Schöne neue Welt: rechte oder linke Schläger können sich gleich die aus ihrer Sicht „Richtigen“ aus der Masse herausgreifen und verprügeln, Journalisten bleiben bei investigativen Recherchen endlich nicht mehr unerkannt. Der Managerin, mit der ein Geschäftsabschluss auszuhandeln ist, kann endlich die Finanzie­rung ihres Studiums als Escort-Girl unter die Nase gerieben werden. Was Gesichtserkennung kann, kann Nummernschilderkennung schon lange: fahren wir doch diesem Prominenten mal eine Weile hinterher. Die Datenbestände, auf denen das alles basiert, sind Eigentum des Datenhändlers, also weder demokra­tisch legitimiert noch politisch kontrolliert, und allenfalls nach selbstdefinierten Standards qualitätsgesi­chert – da wird schnell mal jemand irrtümlich aufgrund fehlerhafter Daten krankenhausreif geschlagen. Und natürlich übermittelt die Datenbrille dem Anbieter lückenlos, für welche Menschen und für welche ihrer Eigenschaften sich die Trägerin oder der Träger besonders interessiert. Die Brille hebt künftig all das besonders hervor, wovon der – selbstverständlich vom Anbieter kontrollierte – Algorithmus vermutet, es sei für den Nutzer oder die Nutzerin interessant. Der Datenbrillenträger bzw. die -trägerin sehen bald, je nach Interessenlage, nur noch Menschen, die sexuellen Perversitäten frönen – was pervers ist, weiß oder behauptet natürlich ebenfalls der Algorithmus, also der Anbieter –, linksgrünversiffte „Untermenschen“, rechtsnational-völkische Nazis, Millionäre, Vorbestrafte, Kranke, Migranten, Ungeimpfte, usw. usf. – mit der restlichen Realität behelligt uns die Brille ja gar nicht mehr. Und natürlich hat der Anbieter jederzeit die Möglichkeit, das, was Nutzerinnen und Nutzer zu sehen bekommen, nicht an deren, sondern an eige­nen Interessen auszurichten, oder gleich blanke Fehlinformationen, dreiste Lügen über einzelne Men­schen also, in das System einzuspeisen.

Defätistische Zukunftsangst, hysterische Fantasie? Technisch ist all das seit Jahren konkret machbar, über die entsprechenden Datenbestände verfügen neben Facebook und Google auch in der Öffentlichkeit völ­lig unbekannte privatwirtschaftliche Datenhändler meist US-amerikanischer Provenienz, gegenüber denen die europäische DSGVO im Konfliktfall nicht wirklich durchgesetzt werden kann. Auch der Autor erwischt sich bisweilen bei dem Gedanken, eine solche Datenbrille fallweise ganz unterhaltsam oder recht nützlich zu finden – und wo eine Nachfrage ist, ist über kurz oder lang auch ein Angebot. Das Szenario ist klar kommende Realität: chinesische Polizisten setzen, basierend auf den Daten des staatli­chen Sozialpunktesystems, solche Brillen heute schon ein.

Datenschutz ist also kein Luxus, sondern offenbar bitter nötig, sollen Szenarien wie das geschilderte zumindest nicht in vollem Umfang Realität werden - ganz vermeiden wird man sie ohnehin nicht können!