Rock'n'Roll und Niederquerschnittsreifen
07.12.2014 - Neo Rodeos Debut-CD im offenen Auto
Die Tage werden kürzer, das Wetter grauer, die Bäume bunter. Man hofft auf einen langen, harten Winter, an dessen dunklen Abenden man der abertausend Fotos Herr werden kann, die im Laufe eines ereignisreichen Jahres angefallen sind. Dieser Text widmet sich zur Einstimmung zweier Leitmotive meines ganz persönlichen Sommers.
Jogging in den ersten Märztagen. Auf dem Hof eines Autoschraubers registrierte ich im Augenwinkel ein flaches blaues Etwas. Unter Inkaufnahme einer kleinen Zusatzrunde entpuppte sich das bei näherem Hinsehen als ein Peugeot 306 Cabriolet, das Modell mit der ausgesprochen hübschen Karosserie von Pininfarina. Ein Preisschild war auch dran, es wurden wenig mehr als zweitausend Euro aufgerufen. Unter der Dusche war das Cabrio dann schnell aus der Großhirnrinde einige Etagen tiefer ins Unterbewußtsein gepurzelt, wo es nun aber wohl eifrig herumdüste. Denn einige Tage später sagte ich im Auto zu meiner Frau: "Schatz, wir fahren mal eben einen kleinen Umweg, ich muß dir 'was zeigen." Es folgte eine Eruption frühlingshafter Unvernunft. Noch am selben Abend war das siebzehn Jahre alte Autochen unser Zweitwagen für den Sommer, und zudem ein Tiefgaragenstellplatz in der weiteren Nachbarschaft angemietet. Zum ersten April bekam "Peggy" dann ein Saisonkennzeichen und einen vollen Tank.
Schnitt. Ein fortgeschrittener Abend einige Wochen später, im Halbschlaf und in Gesellschaft der dritten Flasche Bier. Das öffentlich-rechtliche Spätprogramm rieselt hernieder. "Ina's Nacht" immerhin, mit einem herrlich kurz angebundener Mario Basler, der durchaus glaubwürdig versichert, daß ihm Musik völlig schnuppe sei, und daß er sich noch nie eine CD gekauft habe. Ina sagt irgendwas an. Plötzlich: Qualitätsalarm! Erst der flockig puckernde wie lässig swingende Rhythmus eines vollbärtigen Trommlers, in den schnell eine strahlend klare E-Gitarre einstimmt, die die Töne einer intuitiv extrapolierbaren Melodie folgerichtig wie die Wagen eines Güterzuges aufreiht. Ein freundlicher junger Mann, der überdies die akustische Rhythmusgitarre bedient, besingt sein "junges und sorgloses Herz", und sagt klar und verständlich eine interessante Unartigkeit nach der anderen auf. Sehr entspannt, das Ganze, präzise, weder aufgeregt noch angestrengt, unauffällig mit leisem Humor durchwirkt, und andererseits doch sehr bestimmt, von einer in Text und Musik virulenten Kompromißlosigkeit. Neo Rodeo1 heißt die Kapelle. Sie kommt aus dem beschaulichen Freiburg im Breisgau. Frau Müller wies noch prominent auf eine CD hin, für die ich sogar meinem Grundsatz untreu wurde, nicht bei Amazon zu kaufen.
Das Cabrio erwies sich schnell als ingeniöses Spaßmobil, mit dem die 121 Pferdchen unter der Haube leichtes Spiel, die Audis auf der Nebenspur hingegen zu kämpfen haben. Einer der Vorbesitzer hatte den Wagen tieferlegen lassen und mit Niederquerschnittsreifen versehen - bei Nässe kriminell! - , so daß er zwar bretthart ist, aber auch wie auf Schienen dahinrollt. Und, wichtig, mit der eingebauten Musikanlage kann man ordentlich Lärm machen, in den sich stilecht bei in bestimmten Tiefen knurrendem Baß ein fröhliches Scheppern mischt - ein Medium, wie geschaffen für die Neo-Rodeo-CD! Und weil Hamburg in diesem Jahr vermutlich mehr Sonnentage als Timbuktu hatte, war intensiv Gelegenheit, unrettbar zum Neo-Rodeo-Fan zu werden. Denn die Band spielt klare Songs, keine Opern, alles eingängige Rock'n'Roll-Dreiminüter mit deutschen Texten, die teilweise erschreckend schnell zu Ohrwürmern werden. Und so konnte man mich in diesem Sommer auf dem Weg zur Arbeit lauthals wahlweise "Hallo, hallo, ich bin wieder da" oder "Die Party ist vorbei, es ist wieder Dienstag", auf dem Rückweg "Alles egal, alles egal, seit einiger Zeit ist mir alles egal" oder "Ich will das nicht mehr" mitgröhlen hören.
Frau Müllers Einstiegsdroge2 "Mein junges und sorgloses Herz" geht auf der CD zunächst beinahe etwas unter. Das liegt an dem recht "dick" produzierten Auftakt "(Hallo, hallo) Ich bin wieder da", einem saftigen, treibenden Rocker. Dieses Stück nimmt über die musikalischen und produktionstechnischen Qualitäten hinaus noch auf völlig anderer Ebene für sich ein: auf eine Art sind Titel und Refrain eine echte Frechheit! Ausgangslage: Newcomer-Band, erstes Album, erstes Stück. Statement: "Ich bin wieder da"! Schon sehr selbstbewußt, die jungen Herren! Beim Hören der anderen Songs gesteht man aber bald zu, daß diese Chuzpe komplett Sinn macht. Das Album markiert tatsächlich die Rückkehr von etwas, wofür man lange ziemlich weit hinten in den back catalog greifen mußte: frischer, aufgeräumter, druckvoller, geschmackssicherer, handwerklich solider Rock'n'Roll mit eingängigen Melodien und intelligenten, poetischen und gleichzeitig relevanten deutschen Texten. Diese Musik hat nett gerahmte Bilder von Opa Blues und Oma Folk an prominenter Stelle auf dem Kaminsims stehen, und geht gerne auch mal mit Cousin Pop einen trinken. "Hallo, hallo" schlägt musikalisch wie thematisch den Tenor des Albums an, und formuliert darüber hinaus, nicht zuletzt über den herrlichen Refrain, einen Anspruch, den das gesamte Album - nicht durchgängig auf gleich hohem Niveau, aber letztlich doch mühelos - hält. Und so verliert das "Herz" ein wenig sein Alleinstellungsmerkmal, und präsentiert sich einfach als starker Song in einer Reihe teilweise noch stärkerer Lieder, der mit seiner auf den Shuffle-Rhytmus und den ironischen Text abgestimmten, eher zurückgenommenen Produktion hinter dem Einstiegs-Gassenhauer vielleicht einfach etwas unglücklich plaziert ist.
Die richtig starken Songs des Albums zeichnen sich durch eine seltene Gleichwertigkeit von Musik und Text aus. Die Musik legt jeweils einen originell gestalteten Teppich, dem die Texte als dritte Dimension die Tiefe hinzufügen - meilenweit entfernt von der anbiedernden Plattheit irgendwelcher "Revolverheld"en oder selbsternannter "Graf"en. Das geschieht interaktiv, verwoben, im spannenden Dialog: der Text weist Aussprünge in die Musik auf, und die Musik geht dem Text zur Hand. Das funktioniert bruchlos, weil Text und Musik aus der selben Haltung heraus agieren, und letztlich mit ihren jeweiligen Mitteln die selben Gefühle transportieren und ausdrücken: das Leiden an der Unmöglichkeit eines freien Lebens3 in einer wert- und sinnentleerten, sich selbst perpetuierenden, konsum-, profit- und leistungsorientierten, unsolidarischen Gesellschaft, die Ohnmacht, die Orientierungs- und Ratlosigkeit, die daraus erwachsen, der unbändige, heilige Zorn, der als einziges Ventil bleibt, der Humor, ohne den das alles nicht zu ertragen wäre. Hier erweist sich, daß Neo Rodeo nicht nur in musikalischer Tradition stehen, denn auch Anliegen und Haltung sind die des traditionellen, nicht weichgespülten Rock'n'Roll - in dieser Hinsicht stehen Neo Rodeo in Deutschland mutterseelenallein!
Natürlich ist Neo Rodeo's Erstling nicht perfekt. Einige Songs weisen nicht besonders weit über sich selbst hinaus, und feiern den Spaß, was ja nun aber auch so was von legitim ist. "Abrahams Bar", das von two barflies in trouble handelt, ist nicht viel mehr als ein tanzbarer Rocker in gehobener Partyqualität, der immerhin eine nette Geschichte erzählt, und "Freie Liebe" ist eine zwar wohlfeile, nichtsdestotrotz mit Überzeugung mitgröhlbare Hymne auf - genau, der Titel ist Programm. Aber auch diese Stücke haben immer etwas, das sie meilenweit von Durchschnittsware abhebt. So werden die Abenteuer der barflies etwa von einem herzhaften Saxophon-Solo in bester Albie-Donnelly4-Tradition illustriert, und schöner als mit den Anfangszeilen von "Freie Liebe" - "Ich hab' zu ihr Rock'n'Roll gesagt / und sie sagte, das kriegen wir hin" - ist mir schon lange kein Songschreiber mehr mit der Tür ins Haus gefallen, schon gar nicht auf deutsch!
Neo Rodeo spielen beinahe ausschließlich eigenes Material des Leadsängers Johannes Winter5. Einzige Fremdkomposition im Live-Set ist ein Rio-Reiser-Stück, ein anderer Song basiert musikalisch auf einem Robert-Johnson-Blues - erstklassige Referenzen also. Winter ist schätzungsweise Mitte Zwanzig. Seine Themen sind die ewigen Themen seiner Altersklasse: Spaß und Party, kein Bock auf Tretmühle, selbstsüchtige Frauen, Orientierungslosigkeit, Freundschaft, glückliche und unglückliche Liebe, Trennung, Abenteuer. Seine Songs sind von Durchschnittsgestalten bevölkert: der prototypische young man, der auf seinem Weg ins Leben Kumpels, Frauen, Zicken, Chefs begegnet. Seine Orte liegen im urbanen Zentrum eines alternden, verknöcherten Europa: Bars, Großstadtstraßen, Hippiebusse, die eigene Bude. Seine Sprache ist direkt und unverblümt. Winter braucht - nichts gegen den frühen Udo! - keinen "Rudi Ratlos" und keinen "Gerhard Gösebrecht" für seine Songs. Er fußt beim Schreiben auf seiner eigenen Lebenswirklichkeit und der seiner Freunde, und wahrt so alle Chancen, seine Songs in die Lebenswirklichkeit seiner Zuhörer eingehen zu lassen, oder, mit anderen Worten: relevant zu sein.
Winter geht beim Texten - der Gesang auf der CD ist stets klar verständlich produziert - mit unkonventionellem Geschick vor. Akademischen Formulierungen vermeidet er mit allgemeinverständlichen, prototypischen Bildern, die er der Umgangssprache, der Popkultur oder einfach seiner Phantasie entnimmt: "Die ganze Stadt ist nur / ein Parkplatz für den Schrott", die Figur des "Milchmann" mit seinem "Kätzchen", "Sie fällt in jedes Bett", "Ich schlafe morgens länger als ein König im Exil" (mein Favorit!), und natürlich "Doch das Leben ist wie ein Western / Du bist die süße Jane und ich bin schwer verletzt" aus dem Opener.6 Dann wieder kryptische Skizzen, auf die man sich erst einmal einen Reim machen muß: "Wirf die Stiefel raus / und jetzt ein paar Scherben / es macht mir nichts aus / es wird nicht mehr werden" oder "Die Straßen dieser Stadt / Sind groß, doch irgendwie / Vergrößern sie die Sorgen bloß / Und bringen sie ans Ziel". (An dieser Stelle raunen die "Mohr"en der TV-Kulturmagazine gerne "surreal", aber Surrealismus ist dann doch etwas ganz anderes.) Die Bildhaftigkeit der Texte gewährleistet eine Eingängigkeit, die der der Melodien in nichts nachsteht, und Bilder wie Musik werden mit sicherem Gespür für Ambivalenz eingesetzt. Da werden halbvolle Gläser - mal Weingläser, mal Schnapspinneken, dann wieder Cocktailgläser oder Bierhumpen - gereicht, die man vor dem Trinken erst einmal selbst mit dem auffüllen muß, was gerade gedanklich oder emotional zur Hand ist, sei es Gin, Mineralwasser, Grog oder Erbsensuppe. So ist man stets gefordert, die Angebote mit eigenen Assoziationen weiterzuführen, anzufüllen, und so letztlich für sich spezifisch zu individualisieren – sorry, Jungs, letztlich ist das eine der gängigen Definitionen von Kunst!
Damit nicht genug. Winter ist mit einem weiteren, seltenen Talent gesegnet. Textzeilen wie "Ich will es nicht verliern / Bis jedes Jahr dem anderen gleicht / die Chancen, die ich bekam / hab ich gerne verschwendet", "In jedem Anfang wohnt / Ein trauriges Ende" und "Das was man braucht, kriegen wir nie, niemals für immer / Schon liegt der Staub, schon liegt der Staub / auf dem süßen Glück" weisen aus: hier antizipiert - oder extrapoliert - einer emotional weit über seine eigene Person, seinen eigenen Erlebnishorizont hinaus, und er weiß die Resultate mit großer Sicherheit anzuwenden - eine seltene Fähigkeit, die für sich genommen noch keinen großen Songwriter ausmacht, ohne die aber andererseits kein großer Songwriter auskommen kann! Denn so macht er den Schritt aus dem Speziellen hinaus zum Universellen - mir jedenfalls hat diese Kapelle, hat dieser Songschreiber, der nicht einmal halb so alt ist wie ich, einiges zu sagen, auch wenn ich letzte Nacht nicht "mein ganzes Geld / In weißes Pulver umgesetzt" habe. "Er hat genug von diesem Scheiß / Das ist alles was er weiß" kann ich jedenfalls vorbehaltlos unterschreiben.
So zündend die Rezeptur in künstlerischer und partytechnischer Hinsicht sein mag, kommerziell ist in unseren Tagen damit nur schwer ein Blumentopf zu gewinnen. Den unentbehrlichen Rückenwind aus Werbeetat und Medienpräsenz gewähren Plattenfirmen in ihrer unendlichen Güte heutzutage nur noch Newcomern, die sich in vorauseilendem Gehorsam sklavisch in vermeintlich gängige, in Wahrheit aber von grauen Mäusen nur vermutete Markterfordernisse ergeben. Für Kids wirklich relevante, noch dazu nonkomformistische Inhalte, eine rauhe, von Arrangement und Produktion nicht kastrierte Musik, die mit ambivalenten, Plattheiten meidenden Texten interagiert - das genau ist der Alptraum all der gestreamlineten, mutlosen, vor dem Fehlschlag zitternden A+R-Manager unserer Tage. Musik, die über Kriterien und Faktoren funktioniert, die sich nicht in irgendwelche Excel-Tabellen eintragen lassen, ist hochsuspekt, und keinesfalls geeignet, Geld darauf zu verwetten - genau das aber ist das Investment einer Plattenfirma in einen Newcomer: eine Wette. Und, machen wir uns nichts vor: ohne einen professionellen, marktmächtigen Partner an der Seite wird es, wie für viele andere, auch für Neo Rodeo sehr, sehr schwer werden. Die feine Erstlings-CD, ein paar originelle Youtoube-Videos, die landesweite Ausstrahlung des Auftritts bei Ina's Nacht, von dem sicher einige Branchengrößen Notiz genommen haben - alles wohl weitgehend verpufft. Marktdurchdringender Erfolg, nach wie vor Voraussetzung, um als Musiker auf Dauer von seiner Arbeit leben zu können, stellt sich erst ein, wenn die Songs den Leuten im unerträglichen Dudelfunk à la "Die Hits der 80er und das Beste von heute" täglich mindestens fünf Mal um bzw. in die Ohren gehauen werden. Dazu eignet sich die Musik von Neo Rodeo nicht, und von ihrer ganzen Anlage und Haltung her würden die Jungs einen solchen Weg vermutlich auch mit sehr gemischten Gefühlen antreten.[Update] Aktuell kämpft die Band im Studio mit und um ihr zweites Album. Einigen Bemerkungen anläßlich ihres Auftritts im November 2014 in den Astra-Stuben in Hamburg zufolge, und angesichts der Tatsache, daß sie bei diesem Auftritt nur drei neue Songs spielten, den Rest aber von der im kommenden April zwei Jahre alten CD bestritten, scheint die Muse heuer etwas spröde, gar frigide zu sein. Wie dem auch sei. Dem Vernehmen nach ist das zweite Album auf gutem Wege und bereits in der Postproduktion. Die Veröffentlichung ist für den Herbst 2015 geplant.
Ich drücke jedenfalls die Daumen, und erfreue mich so lange an der eigentlichen Sensation des letzten Sommers: der Kombination aus laut aufgedrehter Neo-Rodeo-Musik Darauf freue ich mich! Allerdings muß die eigentliche Sensation des letzten Sommers nun noch einen zweiten Sommer bestreiten: die Kombination aus laut aufgedrehtem Neo-Rodeo-Erstling [/Update] mit einem tiefergelegten Peugeot 306 Cabrio und allerschönstem Sommerwetter, die es mir ermöglichte, die enge 90°-Kurve vom Hellgrundweg kommend in die Stadionstraße im Hamburger Volkspark durchgängig mit exakt den erlaubten 50 km/h zu durchfahren!
1 Neo Rodeo im Netz: http://www.neorodeo.de/, https://de-de.facebook.com/neorodeo/. Ob sich die Jungs bei ihrem Namen auf die famosen Blue Roedo http://www.bluerodeo.com/home/ beziehen, weiß ich nicht, würde mich aber nicht wundern.
2 Neo Rodeo Auftritt bei Inas Nacht: https://www.youtube.com/watch?v=AbWJFz2KpcM
3 die Webpräsenz von Neo Rodeo trägt interessanterweise den Titel "Homepage für freies Leben und Musik"!
4 Albie Donnelly' Supercharge (http://www.superchargeonline.de/)
5 den seine Freunde m.W. Hannes und nicht Johnny nennen
6 Gerade dieses letzte Bild hat den Jungs, zusammen mit dem Bandnamen, ihrer Opposition zum Establishment, und einigen musikalischen Country-Einflüssen, das Etikett der lonesome cowboys eingebracht, das aber wohl doch nur einige Facetten eines komplexeren Ganzen beleuchtet.