Ein Heimatlied auf dem Rummel
19.07.2012 - Waterloo Sunset im Jahre 2012
Am 12.08.12 sind die Olympischen Spiele in London mit einem dreistündigen musikalischen Feuerwerk zuende gegangen. In dieser übrigens perfekt inszenierten popmusikalischen Leistungsschau der vergangenen 50 Jahre fiel ein zerzauster, kleiner alter Mann auf, der seltsam deplaziert ohne großes Gehabe vor einem Mikrophon stand und charmant ein fünfundvierzig Jahre altes Lied zum Besten gab: Ray Davies sang Waterloo Sunset.
Das war ein Moment, der mich sehr berührt hat; ich mußte schlucken. Und diese Rührung empfand ich gleich als etwas verwirrend.
Waterloo Sunset ist ein Lied über einen bestimmten Ort in London, und über die besondere Stimmung, die ein Sonnenuntergang an diesem Ort hervorrufen kann. Und natürlich handelt das Lied von den Beziehungen zwischen den Menschen der Stadt und diesem Ort zu dieser Zeit. Ein Heimatfilm in Liedform quasi.
Wieso berührt ein englisches Heimatlied einen deutschen Ingenieur und Familienvater Mitte Fünfzig, der London zwar unter touristischen Gesichtspunkten, wozu auch pophistorische zählen, für eine tolle Stadt hält, heimatliche Gefühle aber eher westfälischen Wallhecken und Kopfweiden gegenüber hegt?
Aber der Gedanke, daß es mit Heimat zu tun haben könnte, hält Grübeleien stand. Der Mensch scheint so gestrickt, daß er, abseits kalkulierter trivialer oder pathetischer Appelle a la Hollywood, emotional am stärksten auf von außen angetragene Selbstvergewisserung anspricht; auf das Feiern der Heimat also, sei sie geographischer, geistiger, emotionaler, sozialer oder sportlicher Natur.
Mir ist die Pop- und Rockmusik der sechziger und siebziger Jahre, und das, was in dieser Tradition auch später noch gemacht wurde, geistige und emotionale Heimat. Das war unsere Musik, das waren unsere Identifikationsfiguren, die untrennbar mit unseren Erfahrungen, Wünschen, Hoffnungen und Utopien als Jugendliche und junge Erwachsene verbunden sind.
Insofern ist Waterloo Sunset für mich tatsächlich ein Heimatlied über ein imaginäres Zuhause, das trotzdem höchst real ist, bestimmt es doch mein Denken, Fühlen, Handeln..
Heimat in diesem Sinne sind sicher auch die Pet Shop Boys und George Michael für die in den Achtzigern jungen, oder Madonna und die Spice Girls für die Kids der Neunziger. Und heute? Ein völlig unübersichtliches Angebot mit einem Spektrum von Marylin Manson über Puff Daddy und Beyoncé bis hin zu DJ Bobo. Noch erheblich mehr Masse als in den Jahrzehnten davor, aber auch deutlich feineres Granulat, vulgo: kleineres Kaliber.
Fraglos gab es auch vor vierzig Jahren Scharlatane und Dilettanten, und andererseits gab es auch später noch einen Bob Marley, einen Bruce Springsteen, oder auch einen zumindest authentischen 50 Cent. Aber die Entwicklung scheint mir insgesamt doch die zu sein, daß immer mehr Kids immer mehr handwerkliche Qualität und emotionale Wahrhaftigkeit entgeht. Man könnte auch sagen: vorenthalten wird, denn der Werbeetat der Musikindustrie gibt immer noch vor, was überhaupt als Angebot wahrgenommen wird.
Und weil sich gerade in jungen Jahren Qualitätsansprüche herausbilden und verfestigen, scheint mir das keine Nebensächlichkeit zu sein.
Waterloo Sunset's fine...