Fotografieren mit Festbrennweite

29.07.2012 - Über den Körpereinsatz beim Fotografieren

Jede 70-€-Knipse hat einen optischen Dreifach-Zoom. Warum also kommt eine edelkompakte 1000-€-Kamera ohne Gummilinse daher?

Darauf gibt es eine zweiteilige Antwort. Der erste Teil legt technische Überlegungen um Sensorformat, Abbildungsqualität und Baugröße dar, die auf eine Festbrennweite als sinnvollste Lösung führen. Der zweite Teil zeigt auf, daß eine Festbrennweite gegenüber Zoomobjektiven wenig prinzipielle Nachteile hat, sondern im Gegenteil bemerkenswerte Chancen bietet.

Technische Überlegungen (am Beispiel der Fujifilm Finepix X100)

Kurz gesagt ist die Konstruktion eines Objektivs für eine Digitalkamera die Suche nach einem Kompromiß, der die einander wiedersprechenden Anforderungen möglichst großer Sensor, möglichst hohe Lichtstärke, möglichst großer Zoombereich, möglichst geringe Baugröße und möglichst hohe Abbildungsleistung unter einen Hut bringt. Ein Zoomobjektiv mit hoher Lichstärke kann z.B. kein kleines Objektiv mit guten Abbildungsleistungen sein. Hier müssen sich die Designer also für bestimmte Prioritäten entscheiden.

Bei der Fujifilm Finepix X100 war eine kompakte Bauform von Beginn an bestimmende Designvorgabe, ebenso wie der vergleichsweise große Bild-Sensor in APS-C-Größe (22,2 mm x 14,8 mm, gut 60 % der Formatdiagonalen und knapp 40 % der Fläche des Vollformats 24 mm x 36 mm). Bei einem so großen Sensor und der ebenfalls gewünschten vergleichsweise hohen Lichtstärke war ein Zoomobjektiv einfach nicht mehr mit einer kompakten Bauform zu vereinbaren. Daher haben sich die Macher der X100 für eine Festbrennweite entschieden, und auch hier schon einige Schweirigkeiten, die Lichtstärke (2.0 relative Öffnung) so klein wie gewünscht zu realisieren.

Wer sich die Wechseloptiken der 2012 erschienenen Fujifilm Finepix X-Pro1 ansieht, stellt fest, daß diese deutlich voluminöser ausgefallen sind als bei der X100 - eine direkt vergleichbare Brennweite gibt es allerdings leider (noch?) nicht -, obwohl es sich auch um Festbrennweiten für eine Kamera mit APS-C-Sensorgröße handelt. Daß die Optik der X100 so deutlich kleiner ausfallen konnte, liegt, neben der Verwendung asphärischer Linsen, u.a. auch an Maßnagmen, die direkt am Bildsensor ergriffen wurden. Hier wurden Mikrolinsen auf der Chipoberfläche selbst aufgebracht, die speziell in den Randbereichen die immer schräger auftreffenden Lichstrahlen des Objektivs hin zu einem rechtwinkligeren Auftreffen brechen. (Digitale Sensoren sind in diesem Punkt um Größenordnungen empfindlicher als analoges Filmmaterial.) Daß Objektiv und Sensor hier exakt aufeinander abgestimmt sein müssen, liegt auf der Hand, und das ist der eigentliche Grund dafür, warum die X100 keine Wechseloptik hat. Und auch bei einer Zoom-Optik ist der Auftreffwinkel der Lichtstrahlen speziell in den Randbereichen des Sensors je nach eingestellter Brennweite variabel, was den Einsatz der Mikroprismen unmöglich machen würde, und wieder zu deutlich größeren Bauformen führen würde.

Insgesamt gab es also in technischer und konzeptioneller Hinsicht einige gute Gründe dafür, eine kompakte Digitalkamera wie z.B. die Fujifilm Finepix X100 mit einem fest montierten Objektiv fester Brennweite zu bauen.

Fotografische Überlegungen

Daß Weitwinkelobjektive durch die überproportional große Abbildung naher Objekte Bilder dynamischer wirken lassen, und Teleobjektive weit voneinander Entferntes in attraktiv flächiger Abbildung zusammenschieben, scheint gesichertes Fotografenwissen. Und doch ist es eine Halb- oder Viertelwahrheit1, die zu dem falschen Schluß führt, daß sich interessante Bilder nur mit mehr oder weniger extremen Brennweiten machen lassen. Daß das nicht stimmt, ist ganz einfach mit Hilfe einer der oben erwähnten 70-€-Knipsen nachzuvollziehen.

Dazu macht man drei Bilder von einem großen Objekt, vor dem sich ein deutlich kleineres Objekt befindet. Das erste Bild ist eine Totale mit einer Brennweite, die umgerechnet auf das Kleinbildformat etwa 352 mm beträgt.

Fern 35 mm (Totale) (Standort 1)
aaa

bbb

Dann zoomt man das kleinere Objekt vom selben Standort aus auf moderate Tele-Brennweite heran, im Beispiel auf etwa 105 mm.

Fern 105 mm ( (Standort 1), Zoom auf rotes Rechteck oben)

ccc

ddd

In den Totalen oben ist der vom selben Standort durch Verlängerung der Brennweite (= Heranzoomen) gewonnene Ausschnitt jeweils als rotes Rechteck eingezeichnet. - Für das dritte Bild geht man so nah an das Motiv heran, daß der kleinere Gegenstand bildbestimmend wird.

Nah 35 mm (Standort 2, Entfernung verkürzt)

eee

fff

Vergleicht man die Totale mit der Tele-Aufnahme, so bewirkt das Heranzoomen in der Tat ein flächigeres Bild, in dem die Dinge enger zusammengerückt erscheinen. Die Kennzeichnung des Bildausschnitts der Tele-Aufnahme in der Totalen zeigt aber auch: exakt das gleiche Bild wie das der Tele-Aufnahme, sowohl bezüglich der Proportionen der Gegenstände als auch die Tiefenschärfe betreffend, hätte man durch Vergrößern des gekennzeichneten Ausschnitts am Computer gewinnen können!

Vergleicht man nun die Tele-Aufnahme mit der dritten Aufnahme, die mit der gleichen Brennweite wie die erste Aufnahme aus allerdings deutlich kürzerer Entfernung gemacht wurde, dann ergibt sich als einzige Übereinstimmung allenfalls, daß das kleinere Objekt bildbestimmend ist. Ansonsten sind es aber in jeder Beziehung völlig unterschiedliche Bilder.

Sowohl bei dem Betonbehälter als auch bei dem Kiosk erscheint das kleinere Objekt gegenüber dem größeren Objekt im Hintergrund überproportional groß, die perspektivischen Verzerrungen haben zugenommen, und auch die Tiefenschärfe ist bei ansonsten genau gleicher Belichtung eine andere.

Das läßt den Schluß zu: nicht die Variation der Brennweite führt zu unterschiedlichen Bildcharakteristiken, sondern die Veränderung des Aufnahmeabstandes, die Bewegung des Fotografen also!

Natürlich sind Zoomobjektive oder Weitwinkel- bzw. Tele-Festbrennweiten nicht überflüssig. Kurze Brennweiten machen die Abbildung großer Objekte, von denen man sich nicht weit entfernen kann, erst möglich, oder sie ermöglichen es bei anderen Motiven erst, nah genug für eine bildwirksame Tiefenstaffelung an das Objekt heranzugehen. Lange Brennweiten erlauben es, weit entfernte Dinge in einer Größe abzubilden, die nicht in der begrenzten Auflösung der Kamera (der Auflösung des Bildsensors, oder, bei Analogfotografie, der Filmemulsion, jeweils im Zusammenspiel mit der Optik) untergeht.

Richtig ist aber auch: mit einer leichten Weitwinkel-Festbrennweite und einem leidlich hochauflösenden Bildsensor, der Reserven für Ausschnittvergrößerungen am Computer bietet3, kann man prinzipiell die gleichen Bilder machen, wie mit einer Kamera, die einen Zoombereich zwischen moderatem Weitwinkel und leichtem Tele aufweist.

Gerade weil man den Bildausschnitt nicht bequem mit dem Finger auf der Zoomwippe bestimmen kann, sondern gut zu Fuß sein und den Aufnahmeabstand fleißig variieren muß4, um formatfüllend und in einem sicheren Abstand zur Kameraauflösung zu agieren, führen Festbrennweiten bei Fotografen, die sich bewußt darauf einlassen, zu überdurchschnittlich interessanten Bildern. Denn wenn man schon laufen muß, überlegt man sich auch, wie weit man läuft, ob man noch etwas nach rechts oder nach links geht, ob man vielleicht besser in die Hocke geht, sich gar platt auf den Boden legt oder noch eine Böschung erklettert, u.v.a.m.

Natürlich ist all das auch mit einem Zoomobjektiv oder Wechselobjektiven möglich, und gute Fotografen handhaben das auch so. Aber, und hier wird es für den Amateur interessant, der sich verbessern möchte: über die reine Möglichkeit hinaus zwingt das Fotografieren mit Festbrennweite den Fotografen zur Einnahme einer „Position“ zum fotografierten Objekt, zur bewußten Wahl eines „Standpunktes“ im wahrsten Sinne des Wortes. Er muß sich mit dem Objekt auseinandersetzen. Und aus einer bewußt eingenommenen Position heraus, von einem aus Überzeugung gewählten Standpunkt aus, agiert man überzeugender, macht man auch überzeugendere Bilder.

Die Festbrennweite bietet dem Fotografen, der bereit ist, Zeit und Engagement aufzubringen und sich in Bezug auf das Objekt innerlich und äußerlich zu bewegen, die Chance, zu besseren Bildern zu kommen. Ist er dazu nicht bereit, weil er nur Erinnerungsbilder knipsen will – was völlig legitim und in keiner Weise ehrenrührig ist! -, dann werden seine Bilder mit der Festbrennweite schlechter werden als mit einer Gummilinse. Es kommt also auf den Fotografen an. Bei den Besitzern einer hochwertigen Edelkompakten wie der Fujifilm Finepix X100 kann man jedoch schon aufgrund der vom Anbieter erhobenen „Schutzgebühr“ davon ausgehen, daß es sich um ambitionierte Amateure5 handelt.

1 die Thematik kann ausführlich in [Feininger], S. 37ff. und in [Solf], S. 144ff. studiert werden

2 Das entspricht der leichten Weitwinkel-Festbrennweite der Finepix X100. Das Prinzip erschließt sich aber auch mit der klassischen Normalobjektiv-Brennweite von 50 mm. - Im Weiteren werden Brennweiten stets auf Kleinbildformat normiert angegeben.

3 Überspitzt formuliert: eine Kamera mit unendlich hoher Auflösung käme für alle Aufnahmesituationen mit einer Weitwinkel-Festbrennweite aus, weil sich jede gewünschte „Teleaufnahme“ nachträglich am Computer machen ließe – das ist natürlich Theorie!

4 Fujifilm bietet die Finepix X100 in einer „Limited Edition“ zusammen mit Bereitschaftstasche und Blitzlicht an. In Anbetracht der überragenden available-light-Eigenschaften der Kamera wäre es vielleicht sinnvoller, statt des Blitzlichtes einen Gutschein für ein Paar gute Laufschuhe in passender Größe beizulegen.

5 Profis sind es wohl eher selten, dazu ist die Konzeption der X100 leider nicht konsequent genug und mit zu vielen Ecken, Kanten und Kompromissen umgesetzt.