Diktatur der Landschaft

25.02.2013 - Betrachtungen zur Dominanz des Querformats

Dass Computer unser Leben in vielfältiger Weise verändert haben, ist eine Binsenweisheit. Wenn man, wie ich, tagsüber als Software-Ingenieur seine Brötchen in der IT-Branche verdient, kann man freilich auf die Idee kommen, sich des Einflusses der kalkulierenden Kameraden einigermaßen bewusst zu sein. Schließlich steuert man gegen, beurteilt Trends und Möglichkeiten kritisch, bevor man sie in sein Leben einbaut, wozu es z.B. bei Facebook & Co. dann bei mir auch gar nicht erst gekommen ist. Ein bisschen kritisches Bewusstsein, ein bisschen den Kant beherzigen - „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ -, und schon steht man über den Dingen.

Denkste! Die ja jüngst reichlichen langen und dunklen Winterabende nutzend, habe ich viele meiner analogen Dias eingescannt, und dabei natürlich noch einmal genau hingesehen. Erst ist mir ganz diffus aufgefallen, dass da doch einige ganz interessante Bilder dabei waren, die irgendwie „anders“ waren. Anders als was? Das war mir erst einmal nicht klar. Bis mir vor ein paar Tagen ganz plötzlich ein Licht aufging: ich habe ja damals noch Hochformate fotografiert! Genauer: mein erster Diafilm, Klassenreise nach Berlin 1976, besteht zu einem Drittel aus Hochformat-Aufnahmen, mein letzter „Film“, ein Verzeichnis auf der Festplatte mit ca. 500 Digitalaufnahmen vom November 2012 in Barcelona, weist genau ein (!) Hochformat auf, schäbige 0,2 Prozent. Und auch beim Vergleich ähnlicher Motivgemenge bleibt ist die Sache eindeutig: USA-Reise 1992 (New York, Westen, San Francisco): ein knappes Drittel Hochformate, USA-Reise 2012 (gleiche Orte): nur gut 6 Prozent Hochformate. Donnerwetter!

Diese Zahlen sind interessant. Immerhin hatte ich 1992 bereits knapp 30 Jahre Fernsehen im 4:3-Format in den Knochen (oder in den Augen oder im Gehirn), und seit meinem ersten Kinofilm (Lucky Luke, 1972), bekanntlich auch im teilweise sogar extremen Querformat (Cinemascope), waren gerade 20 Jahre vergangen. Das alles hatte aber wohl wenig Einfluss auf meine Fotos, die Stichproben von 1976 und 1992 weisen jeweils einen Hochformat-Anteil von einem Drittel auf. Mit Computern arbeite ich intensiv seit 1986, zuvor immerhin auch schon sporadisch. Allerdings vorwiegend im Textformat und mit Programmkode-Editoren und Compilern, in dieser frühen Zeit nie mit Grafiken, Bildern oder Fotos – Windows 95, das grafische Anwendungen und Bildbetrachtung am Computer erst für die breite Masse zugänglich machte, kam, wie der Name sagt, erst 1995. Und die erste einfache Digitalkamera, deren Bilder direkt auf den Computer gespielt werden konnten, habe ich 2004 gekauft.

Von da an ging's bergab. Spätestens ab da sah man dann jedes Foto zumindest auch durch die Brille, ob es sich denn wohl als Hintergrundbild für den Computer eignet. Bilder betrachten im größeren Kreise am LCD-Fernseher: ein Hochformat nutzt nur ca. ein Drittel der Bildschirmfläche und wirkt, unabhängig vom Bild selbst, immer viel kleiner und kümmerlicher als jedes dumme Querformat, das den Bildschirm ganz ausfüllt. „Gedankenlose“ Software tut ein übriges: Ich scanne Dias auf einem alten Mac. Wenn man die Vorschau vom OS X auf mehrere Bilddateien gleichzeitig loslässt, und die erste Datei zufällig ein Hochformat ist, dann werden die weiteren Bilder, wenn sie Querformat aufweisen, in das schmale Fensterchen gequetscht, das für das Hochformat dimensioniert wurde. Das muss man dann erst fummelig mit der Maus größer ziehen, was im Ergebnis auf das Hochformat als Störenfried zurückfällt. Oder elektronische Bilderrahmen. Die werden stets im Querformat aufgehängt oder -gestellt, schließlich liegen fast alle gespeicherten Bilder im Querformat vor.

Die Zeiten und die vorhandene technische Infrastruktur sind in unseren Tagen nicht gut für das Hochformat. Das schlägt durch, nicht nur auf meine Bilder, die Landschaft - im Englischen wird das Querformat als „Landscape“ bezeichnet - diktiert. Aktuelle Stichprobe im Internet: die Hauptseite von sueddeutsche.de hat ausschließlich Querformat-Bilder, spiegel.de nur Querformat und quadratisches Format für die kleinen Anreißer-Bilder, tagesspiegel.de desgleichen. Stern.de-Einstiegsseite: 100 Prozent Querformat. Das Bild wandelt sich erst geringfügig, wenn man auf die Online-Galerien für Fotoamateure wechselt (seen.by vom Spiegel, View vom Stern). Aber hier fällt dann die kleine Betrachtungsfläche auf den Querformat-Monitoren wieder unangenehm auf. Um 90 Grad schwenkbare Monitore, wie sie vor einigen Jahren durchaus noch verbreitet waren, gibt es praktisch nicht mehr. Dias mit ihrer für Hoch- und Querformat gleichermaßen geeigneten quadratischen Projektionsfläche wirft kein Mensch mehr an die Wand. Bilder drehen sich fast ausschließlich auf Festplatten und erblicken die Welt allenfalls kurz durch den Monitor, im Querformat, versteht sich. Gerahmt und an die Wand gehängt wird heute noch seltener als in der Analogära. Einzig die frei drehbaren Smartphones und Tablets mit ihrer automatischen Lageerkennung machen Hoffnung. Aber die sind klein und Einzelbetrachtern vorbehalten.

Dabei blickt das Hochformat auf große Zeiten zurück. „Mona Lisa“ von Leonardo, Munchs „Der Schrei“, sämtliche „Sonnenblumen“ van Goghs, Picassos „Les Demoiselles d’Avignon“ (wenn auch nur knapp), die „Betende Hände“ von Dürer, sämtliche russischen Ikonen, alle Selbstportraits und Ferkeleien von Schiele, Max Ernsts „La vierge corrigeant l’enfant Jésus devant trois témoins“, die gesamte sakrale Altarkunst von Meister Bertram bis Mathias Grünewald (zumindest was die Altartüren angeht): alles Hochformate. Auch berühmte Fotos wie „Derrière la Gare Saint Lazare“ von Cartier-Bresson, „Le Violon d'Ingres“ von Man Ray oder „Sprung in die Freiheit“ von Peter Leibing: Hochformate.

Und es macht ja auch Sinn! Menschen und ihre Köpfe sind höher als breit. Häuser: oft desgleichen. Das Hochformat ist in der People-, Portrait- und Teilen der Architekturfotografie eigentlich das natürliche, naheliegende Format. Und, siehe oben, eben weil es selten geworden ist, sind Bilder im Hochformat per se etwas Besonderes – wenn man sie nicht gerade auf einer Glotze präsentiert! Ich jedenfalls werde mich bemühen, die Kamera öfter mal um einen Viertel Vollkreis zu drehen, und Gelungenes auch hin und wieder einmal zu (Photo)Papier zu bringen.